Das Food Waste-Update

Von der Landwirtschaft bis zur Wissenschaft

In der Schweiz fallen jährlich rund 2.8 Mio. Tonnen Food Waste an. Das sind umgerechnet rund 330 kg vermeidbare Lebensmittelabfälle, die pro Person während einem Jahr in der Mülltonne landen. Die Herstellung, der Transport, aber auch die Lagerung dieser Nahrungsmittel ist sehr Co2-intensiv und belastet Böden und Umwelt.

Das nationale Parlament hat den Handlungsbedarf im Bereich Food Waste erkannt. Es hat am 5. März 2019 ein Postulat von der ehemaligen glp-Nationalrätin Isabelle Chevalley überwiesen, mit dem Auftrag, einen Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung auszuarbeiten. Dieser wurde am 6. April 2022 durch den Bundesrat verabschiedet. Der Aktionsplan sieht vor, den Food Waste in der Schweiz bis 2030 um 50% zu reduzieren. Ebenfalls gibt der Bundesrat in seinem Aktionsplan Handlungsempfehlungen und freiwillige Massnahmen für alle Akteurinnen und Akteure der Lebensmittelkette ab. Doch hält der Aktionsplan, was er verspricht? Reichen die festgelegten, freiwilligen Massnahmen aus, um den Food Waste in der Schweiz bis 2030 tatsächlich zu reduzieren?

Corina Liebi stellt das glp lab Projekt „Food Save statt Food Waste“ vor.

 

Vier Perspektiven auf den Aktionsplan Food Waste

Um dieser Frage nachzugehen, hat das glp lab Ende August ein Panel veranstaltet. Eingeladen wurden verschiedene Akteurinnen und Akteure der Lebensmittelkette von der Landwirtschaft bis hin zum Detailhandel. Und natürlich durfte auch die wissenschaftliche Perspektive nicht fehlen. Auch wurden im Vorfeld verschiedene Stiftungen und Organisationen, die die Konsumentinnen und Konsumenten vertreten, für eine Podiumsteilnahme angefragt.

Aufgrund knapper personeller Ressourcen konnten wir jedoch keine Person für eine Teilnahme an einer Abendveranstaltung gewinnen. Dies mag aber auch daran liegen, dass es keine Lobbyorganisation gibt, die sich ausschliesslich für die Anliegen der Konsumentinnen und Konsumenten im Bereich Food Waste einsetzt, auch wenn verschiedene Stiftungen und Organisationen den Bereich indirekt mitberücksichtigen. Diese Problematik hat sich ganz klar auch auf den Aktionsplan Food Waste ausgewirkt.

So haben denn auch verschiedene Podiumsteilnehmende darauf hingewiesen, dass im Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung praktisch keine Massnahmen vorgesehen sind, die sich spezifisch an die Konsumentinnen und Konsumenten richten, obwohl diese für einen Grossteil des in der Schweiz anfallenden Food Wastes verantwortlich sind.

 

Wir, die Konsumentinnen und Konsumenten.

Aus diesem Grund hat sich der Schweizerische Bauernverband auch geweigert, die kürzlich initiierte Branchenübergreifende Vereinbarung zur Reduktion von Lebensmittelverlusten zu unterschreiben. Die Konsumierenden werden mit dem Aktionsplan zu wenig in die Pflicht genommen. Es fehlen gezielte Anreize, die Konsumentinnen und Konsumenten dazu zu bewegen, nachhaltiger einzukaufen.

Man möchte auf nichts verzichten und sich schon gar nicht bei der Einkaufsplanung Vorschriften machen lassen. Brot zum Beispiel soll 24/7 zur Verfügung stehen, selbst aufbacken möchte man es aber lieber nicht. Es soll dann schon frisch sein, wenn man «so viel dafür bezahlt». Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es enorm schwierig ist, die Balance zu finden zwischen den Kundenbedürfnissen mit einer entsprechenden Nachfrage und dem zur Verfügung stehenden Angebot, ohne dass es zu einer Überproduktion kommt.

 

„Der Anteil der Lebensmittelkosten an den monatlichen Gesamtausgaben des durchschnittlichen Schweizer Haushalts ist im internationalen Vergleich relativ gering.“

Basiert auf: Haushaltsausgaben, Bundesamt für Statistik

 

Abhilfe würde wohl nur ein Anstieg der Lebensmittelpreise unter Berücksichtigung der externen Kosten (wie Umweltbelastung, Co2-Ausstoss, verwendetes Trinkwasser etc.) bringen. Doch wer ist schon bereit, die wahren Lebensmittelpreise (true costs) zu bezahlen, wenn man in der Schweiz gefühlt schon viel mehr für seinen Einkauf ausgeben muss als im nahegelegenen Ausland? Würde das nicht den Einkaufstourismus noch mehr fördern? Anstatt die Preise anzuheben, werden sie in der Schweiz aufgrund des Einkaufstourismusses gar gesenkt. Gleichzeitig muss aber auch gesagt werden, dass der Anteil der Lebensmittelkosten an den monatlichen Gesamtausgaben des durchschnittlichen Schweizer Haushalts mit unserem Lohnniveau im internationalen Vergleich relativ gering ist.

Was bleibt davon übrig? Auch ein Frage, wie man zählt.

 

Was genau ist Food Waste?

Ebenso herausfordernd für die Landwirtschaft ist, dass landwirtschaftliche Nebenprodukte, die an Tiere verfüttert werden, als Food Waste angesehen werden. Auch wenn der Aktionsplan Food Waste eine Definition der Lebensmittelverschwendnung versucht, ist diese in der Praxis nur schwer anwendbar. Denn Nahrungsmittel, die in der Landwirtschaft als Tierfutter genutzt werden, werden nicht gewogen. Auch werden Flüssigkeiten, die einfach weggegossen werden, nicht mitgezählt. Das bundesrätliche Ziel, ein umfassendes Monitoring im Bereich Food Waste auf die Beine zu stellen, wird wohl schwer erreichbar sein. Oder zumindest eine Umsetzung, in der der gesamte anfallende Food Waste mitberücksichtigt wird. Aber vielleicht muss das auch gar nicht der Anspruch sein. Viel eher muss es darum gehen, nachprüfen zu können, ob die erlassenen Massnahmen des Bundes greifen und ob sich positive Entwicklungen abzeichnen.

 

Fehlende Toleranz in den Lieferketten

Ein weiteres Problem, das im Aktionsplan Food Waste nicht wirklich angegangen wird, sind die Lieferverträge der Landwirtschaft mit dem Detailhandel. Sie erlauben heute praktisch keine Flexibilität. Am Tag X muss die Landwirtschaft die zuvor vereinbarten Mengen des landwirtschaftlichen Erzeugnisses in entsprechender Qualität liefern. Stimmt die Qualität nicht, finden die Produzentinnen und Produzenten keine Abnehmenden für ihre Produkte. Sie verfüttern ihre Erzeugnisse daher an die Tiere, bringen sie tonnenweise in die Biogasanlage oder lassen sie sogar auf dem Feld liegen, weil es mehr Kosten würde, die Erzeugnisse aus dem Boden zu holen anstatt einfach wieder unter die Erde zu kehren. Die Schweizer Ware landet also im Abfall. Die Nachfrage der Kundinnen und Kunden besteht aber weiterhin. So wird denn auch günstigere Ware aus dem Ausland importiert.

 

„Wir sehen also ganz klar ein Marktversagen respektive einen massiven Fehlanreiz, den der Staat beheben muss.“

Corina Liebi über die Anreizstruktur der aktuellen Lieferketten

 

Wir sehen also ganz klar ein Marktversagen respektive einen massiven Fehlanreiz, den der Staat beheben muss. Gleichzeitig verdeutlichen wissenschaftliche Studien, dass nicht nur die Menge der Lebensmittelverschwendung reduziert werden muss, sondern auch deren Umweltbelastung.

 

Mehr Vorlauf gegen das Ablaufdatum

Viele Massnahmen, die auf dem Papier gut klingen, sind in der Praxis nur schwer oder nur mit viel Vorlaufzeit umsetzbar. Das zeigt sich insbesondere im Detailhandel. Erst kürzlich wurde medial eine Diskussion angestossen, dass Produkte, die bald «ablaufen» werden, doch eingefroren und damit länger haltbar gemacht werden sollen. An sich eine gute Idee. Das bedeutet für die Detailhändlerinnen und Detailhändler aber auch, dass jede noch so kleine Filiale über einen geeigneten Gefrierschrank verfügen muss, um diese Massnahme umzusetzen. Viele der aktuell in Betrieb stehenden Geräte erfüllen diese Anforderung nicht. Aus wirtschaftlicher Perspektive lohnt es sich auch nicht, diese vor Ende deren Lebensdauer zu ersetzen. Eine Umsetzung der Massnahme wäre daher erst ab Ende des Lebenszyklusses der bereits vorhandenen Geräte sinnvoll und braucht daher einige Jahre Vorlaufzeit.

Hinter jedem noch so kleinen Prozess steckt also eine riesige Logistik, die von aussen nicht immer sichtbar ist. Gleichzeitig steigt bei Schnellschüssen auch die Fehleranfälligkeit und damit das Risiko für Reputationsverluste der Unternehmung. Insbesondere im Lebensmittelbereich ist das extrem heikel, da keine genügende rechtliche Absicherung besteht und nur ein kleiner Fehler hohe Schadensersatzforderungen mit sich bringen würde. In einem ersten Schritt müssten also Pilotversuche durchgeführt werden, um das Risiko zu minieren und der richtige Zeitpunkt für eine Investition abgewartet werden.

 

Mit gutem Beispiel voraus

Kleine gesetzliche Änderungen ziehen also häufig einen im ersten Moment nicht absehbaren Rattenschwanz mit sich. Und es ist denn auch verständlich, wenn der Detailhandel sagt, dass es nicht seine primäre Aufgabe sei, Kundinnen und Kunden ohne staatliche Entschädigung für die Food Waste-Thematik zu sensibilisieren, auch wenn Einkaufsläden natürlich ein guter Ort dafür wären. Nichtsdestotrotz bemühen sich die Detailhändlerinnen, Food Waste wo immer möglich zu vermeiden. Sie bekennen sich zum Ziel der Food Waste-Reduktion, auch wenn nicht jede Massnahme des Aktionsplanes gegen die Lebensmittelverschwendung mitgetragen werden kann. Dies zeigt mitunter auch die Branchenübergreifende Vereinbarung zur Reduktion von Lebensmittelverlusten, die sowohl durch Migros und Coop wie auch von Lidl Schweiz und ALDI SUISSE sowie vielen weiteren Unternehmungen unterschrieben wurde.

 

Mehr Staat für weniger Food Waste

Die Podiumsteilnehmenden waren sich einig, dass es Handlungsbedarf im Bereich Food Waste gibt, mit den Massnahmen des Aktionsplanes waren sie jedoch nur in Teilen zufrieden. Von aussen erhärtet sich der Eindruck, dass zwar alle Beteiligten Food Waste verhindern wollen, es aber lieber der andere machen soll. Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich, die Thematik über alle Bereiche der Lebensmittelkette vermittelnd anzupacken und voranzutreiben. Diese Rolle sollte aus meiner Sicht dem Staat zu kommen, der mit seinem Aktionsplan zwar einen ersten Mini-Versuch in die richtige Richtung gewagt hat, damit aber bisher nur wenig erreicht hat.

Im Mai 2022 wurde die Vereinbarung zur Bekämpfung von Food Waste unterzeichnet. © Remo Nägeli

Die Ausarbeitung des Planes hat mehrere Jahre in Anspruch genommen. Er sieht unzählige freiwillige Massnahmen vor, ist aber in keinem Bereich verpflichtend oder setzt gezielte Anreize zur Zielerreichung. Im Jahr 2025 soll die Lage neu eruiert und dann allenfalls verpflichtende Massnahmen beschlossen werden. Sind wir mal ehrlich, bis dahin wird nicht viel passieren.

 

„Sind wir mal ehrlich, bis dahin wird nicht viel passieren.“

Corina Liebi zum Ziel 2030

 

Erst wenn uns das Wasser bis zum Hals steht, kommen wir in die Gänge. Das Problem ist nur: der Food Waste in der Schweiz soll bereits bis 2030 um die Hälfte zum Niveau von 2017 reduziert werden. Bald schon befinden wir uns im Jahr 2023. Wie dieses Ziel in nur sieben Jahren erreichen wollen, ist mir persönlich schleierhaft. Der Aktionsplan ist viel zu kurzfristig und kurzsichtig angelegt. Wir sind deshalb in der Verantwortung, etwas zu verändern. Und was es vor allem braucht: der Konsumentenschutz muss mit an den Verhandlungstisch. Die Konsumentinnen und Konsumenten brauchen eine angemessene Vertretung, um ein aktives Mitspracherecht in einem Bereich wahrzunehmen, von dem sie in ihrem täglichen Leben betroffen sind: ihre Ernährung.


Corina Liebi ist Präsidentin des glp labs und Berner Stadträtin. Sie leitete von 2018 bis 2021 das Lab-Projekt „Food Save statt Food Waste“.

 

Dieser Blogbeitrag fasst den Inhalt des Podiumsgesprächs vom August 2022 in groben Zügen zusammen und enthält eine persönliche Wertung der Autorin Corina Liebi. Er beinhaltet keine direkten Zitate der Podiumsteilnehmenden. Die zusammengefassten Aussagen sollen auch nicht als solche gewertet werden. Mein Dank gilt allen, die im Rahmen des Events mitgewirkt und ihre fachliche wie auch persönliche Meinung mit uns geteilt haben.